Ästhetische Kulturen – Seminar 1: Anderes Wissen (glV) 

Was als „Wissen“ gilt, wird in der Neuzeit maßgeblich von der Wissenschaft bestimmt, die das ehemals leitende Wissen der Religion oder das praktische Wissen des Handwerks, in Heilkunde oder Landwirtschaft verdrängt. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt – und die große Erzählung des Fortschritts – veranlasst auch die Hinterfragung ihrer Genealogie und Grenzen: von der Kritik der Rationalität als leitendem Prinzip der Wissenschaftlichkeit (Foucault) und der Aufmerksamkeit für sich verändernde Medien des Wissens (Rheinberger, Latour, Vogl) über die Historizität der Kriterien für Objektivität (Daston, Galison) bis zur Kunst, der eine zentrale Rolle bei der Verteidigung eines „anderen Wissens“ (Busch 2016) zukommt, insofern sie erlaubt, nicht-diskursive, nicht-propositionale, untrennbar mit medialen Praktiken verbundene Formen des Wissens (Mersch 2015) einzubeziehen.
Die jüdisch-christliche Tradition bildet nicht nur einen der historischen Ausgangspunkte europäischer Philosophie und Hermeneutik als Verfahren der Auslegung von (ursprünglich heiligen) Texten, sondern wird auch als ein anderes Wissen virulent: in Form kabbalistischer Zahlen- und Schriftmagie und christlicher Mystik ebenso wie in theologischen Figuren der Vermittlung, des Darstellens und seiner Grenzen oder der Performativität der religiösen Praxis im Ritual, in Liturgie und Zeremonie, die in der zeitgenössischen Ästhetik, Medien-, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und künstlerischer Praxis neue Perspektiven auf die Medien oder Kulturtechniken des Schreibens und Darstellens, Praxis, Reflexion und natürlich Wissen eröffnen. Gehörte die Magie in die „Grauzone“ zwischen den zugelassenen und den ausgeschlossenen Praktiken der Religionen, hatte auch die sich formierende Wissenschaft ihre „Grauzonen“: Astrologie, Alchemie, Signaturenlehren u.a. In der (säkularisierten) Moderne ließ dann das Wissen nicht-europäischer Kulturen die Grenzen des Wissenschaftlichen immer wieder verschieben – bis zu postkolonialen Theorien, die subversiv in etablierte wissenschaftliche Verfahren intervenieren und gleichzeitig womöglich neue Dogmen schaffen.
Die Perspektive des „anderen Wissens“ lässt schließlich die heutigen Debatten um die Zukunft von KI, die „Singularität“ oder transhumane Visionen der Verschmelzung von Mensch und Maschine als eine neue „Grauzone“ des wissenschaftlichen Wissens genauer betrachten. Der Glaube an „mathematische Magie“ (Wiener) lässt sich gleichzeitig wissenschaftlich kritisieren und zeugt vielleicht von einer neuen Verschiebung dessen, was „Wissen“ heißt – ein potenziell rein technologisch bestimmtes Wissen.

Wird auch angeboten für

Nummer und Typmae-mtr-102.20H.001 / Moduldurchführung
ModulÄsthetische Kulturen 
VeranstalterDepartement Kulturanalysen und Vermittlung
LeitungKaterina Krtilova, Dieter Mersch
Zeit
Di 22. September 2020 bis Di 8. Dezember 2020 / 17:30–20:30 Uhr
OrtZT 4.T37 Seminarraum (30P TL)
Anzahl Teilnehmende6 - 41
ECTS2 Credits
VoraussetzungenInteresse an der Arbeit mit philosophischen, kunst- und medientheoretischen Texten. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.

Für Studierende anderer Studiengänge bzw. Vertiefungen der ZHdK, im Rahmen der geöffneten Lehrveranstaltungen:
Einschreibung über ClickEnroll
https://intern.zhdk.ch/?ClickEnroll
LehrformSeminar
Zielgruppengeöffnete Lehrveranstaltung für Master-Studierende aller Fachrichtungen
Bibliographie / LiteraturDie gemeinsam gelesenen Texte werden zu Beginn des Semesters bereitgestellt.
Leistungsnachweis / Testatanforderung80% Anwesenheit
Termine22.9. bis 8.12.2020
Dienstagabend 22.9. / 6.10. / 20.10. / 3.11. / 17.11. / 8.12. jeweils 17.30 bis 20.30
Dauer6 Abendveranstaltungen im Semester
Bewertungsformbestanden / nicht bestanden
Bemerkung„Ästhetische Kulturen“ setzt sich im HS2020/21 aus 4 modularen Lehrveranstaltungen zusammen, die auch unabhängig von einander besucht werden können. Sie finden jeweils dienstagabends (Seminar 1: "Anderes Wissen" und Seminar 2: "Witchy Ways of Knowing. Gegendisziplinäre Ästhetiken in Gossip, Fadenspielen und Fabulation"), als Blockwoche (Herbstakademie "Theorie-Experimente") sowie an 5 Samstagen während des Semesters (Master-Forschungskolleg) statt.

Das Seminar ist Teil der Modulgruppe "Kunst & Wissenschaft" und berechtigt zur Teilnahme am MTR-Lab 7: "Kolloquium Kunst & Wissenschaft" (s. separate Ausschreibung)

Einschreibungen über ClickEnroll.
Termine (11)