Die italienische Oper und ihr Fürsprech

Seit über 55 Jahren wirkt Nello Santi als Dirigent am Zürcher Opernhaus. Am Samstag erhält er den mit 50 000 Franken dotierten Kunstpreis der Stadt Zürich.

Peter Hagmann
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Italianità an der Zürcher Oper: Maestro Nello Santi. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Italianità an der Zürcher Oper: Maestro Nello Santi. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Etwas Authentisches haftet diesem Menschen an. Schon als knapp Vierjährigem, so erzählt Nello Santi in seiner unnachahmlich lebendigen Art, sei ihm klar gewesen, dass er Dirigent würde. In Adria, südlich von Padua, wo Nello Santi am 22. September 1931 auf die Welt gekommen ist und wo der Vater ein Kolonialwarengeschäft geführt hat – in Adria gab es ein Theater, gut hundert Meter vom Haus der Santi entfernt.

Reisende Truppen, etwa auch die Oper von Rom, machten hier mit Gastspielen Station, und so ist Mutter Santi, eine Primarlehrerin, mit ihrem Dreikäsehoch eines Abends, vielleicht eher eines Nachmittags, zu einer Aufführung von Verdis «Rigoletto» gegangen – dies allerdings nicht in Adria, sondern in den Thermen von Recoaro. Nach diesem Erlebnis war es um den Buben geschehen; alles Weitere ergab sich von selbst und in geradezu bezwingender Logik: Mit «Rigoletto» debütierte Nello Santi am 19. Dezember 1951 in Padua.

Dem Theater verfallen

Aus dem Nichts wird natürlich nichts. Dem Paduaner Debüt und den darauf folgenden Jahren des Anfangs gingen Stunden am Plattenspieler voraus – 78 Touren, mono. Mit einer Intensität, vor der die Eltern nur kapitulieren konnten, zog sich der Heranwachsende die heissgeliebte Opernmusik herein, dazu dirigierte er. Auch reguläre Ausbildung gab es, gewiss. Am Klavier zuerst, aber Nello Santi hatte noch auf manch anderes Lust, es zog ihn zur Geige und zur Bratsche, auch zur Trompete. Auf das Liceo Musicale folgte das Conservatorio, dies in Padua, wo er Komposition studierte. Komponist ist er darob nicht geworden, Gott sei Dank; was ihn unwiderstehlich anzog, war die Theaterluft. Die schnupperte er früh, als Sechzehnjähriger; ihr ist er treu geblieben, bis dato 62 Jahre lang.

Anfangs war er Mädchen für alles. Im Orchester ersetzte er fehlende Musiker, was ihm mit seiner vielschichtigen Begabung wenig Mühe bereitete – selbst Kontrabass hat er gespielt, den einzigen im Orchester, und das in Puccinis «Butterfly». In erster Linie aber diente er als Souffleur. Und wenn Not am Mann war, zwängte er sich aus seinem Kabäuschen heraus, eilte hinter die Bühne, dirigierte dort kurz die Banda und nahm dann raschestmöglich wieder den angestammten Platz ein. Das klingt romantisch, war es bisweilen aber weniger – und vor allem zeigt es, unter welchen Verhältnissen dort und damals Oper aufgeführt wurde. Zum Beispiel berichtet Santi von einem Cellisten, der in der Probe selbst an entscheidenden Stellen nicht gespielt und auf die entsprechende Nachfrage des Dirigenten geantwortet habe, seinem Instrument fehlten Saiten, ihm dagegen fehle das Geld, sich welche zu kaufen.

Wesentlich war indessen, was Nello Santi in jener Zeit aufgeschnappt, zugeflüstert bekommen und mitgenommen hat. Die italienische Oper lebt in einer eigenen Weise von mündlicher Tradition – nein, nicht «Tradition», ruft Santi dazwischen. Oper sei keine Tradition, sie sei ein Stil, das vertritt er als ein Fels in der Brandung. Das neue Ende, das Luciano Berio für die unvollendete «Turandot» von Puccini komponiert hat: «una porcheria», eine Schweinerei, Franco Alfano, von dem das gewöhnlich gespielte Finale stammt, habe gesagt, was es dazu zu sagen gebe. Alte Musik, und Verdi ist auch alte Musik, mit alten Instrumenten aufzuführen, die Komposition also im Klangbild ihrer Entstehungszeit leuchten zu lassen: eine absurde Idee, die Instrumente seien ja immer besser geworden – «was halten denn Sie von dieser Welle?», fragt der Maestro unvermittelt zurück. Die Spur eines Zweifels scheint da vielleicht doch auf.

Demut und Liebe

Aber nur eine Spur. In seinem Kerngeschäft kennt Nello Santi keine Unsicherheit, da herrschen klare Meinungen, auch über Kollegen um ihn herum. Was heisst «Kollegen»? Er sei der Letzte seiner Art, ruft der Maestro aus, und vielleicht hat er sogar recht damit. Zu seinen Grundsätzen gehört die Demut vor dem Werk, das heisst: die genaueste Kenntnis der Partitur. Das hat hier seine ganz eigene Bedeutung, denn Santi dirigiert grundsätzlich auswendig; nur für die Orchestervariationen op. 31, das einzige Werk von Schönberg in seinem immensen Repertoire, brauchte er die Partitur. Dabei steht ihm jede Note vor Augen, und wenn er etwas vorsingt, tut er es immer in Verbindung mit der in Italien üblichen Solmisation. Sol, mi, la, re, in zungenbrecherischer Geschwindigkeit folgen sich die Tonbuchstaben. Dass er mit einem fotografischen Gedächtnis gesegnet sei, das selbst die Studierziffern in der Partitur umfasst, ist ihm früh aufgefallen. Und rasch ist es zu seinem Markenzeichen geworden.

Das hat seine Stimmigkeit: Nello Santi macht nicht Musik, er ist Musik. Und Musik, das wäre die zweite seiner Grundüberzeugungen, ist Kommunikation aus dem Moment heraus. Kommandieren sei leicht, bringe aber nichts. Im Orchestergraben dirigieren heisse etwas ganz anderes, nämlich: den Sänger auf der Bühne in grösstmöglicher Liebe zu tragen, ihm Gestaltungsraum offenzuhalten und mit dem Orchester blitzschnell zu reagieren. Möglich ist das nur auf der Basis einer in Fleisch und Blut übergegangenen Kompetenz und denkbar seriöser Vorbereitung. Vielleicht auch dank dem unglaublich langen Taktstock, den der Maestro benützt. Die Bleistiftstummel, die heute um sich griffen, taugten nichts, beteuert Santi; der Taktstock sei aus dem Geigenbogen des Konzertmeisters hervorgegangen, der das Orchester früher geleitet habe. Sogar ein so autonomer Musiker wie der Cellist Urs Frauchiger erinnert sich an die Wunder, die Santis Taktstock erzeugt hat. Dass so ein Ding auch in die Brüche gehen kann, versteht sich – so geschehen bei der Premiere von Rossinis «Guglielmo Tell» in der unvergesslichen Inszenierung von Daniel Schmid 1992 im Opernhaus Zürich.

Ja, Zürich. Es war in Proben zu Puccinis «Madama Butterfly» 1956 in Lyon, als Santi von der aus Japan stammenden Sängerin der Titelpartie erfuhr, dass das Opernhaus Zürich, damals noch Stadttheater, einen Dirigenten suche. Die Sängerin erzählte einer Freundin in Luzern von dem jungen Santi, die Freundin, per Zufall Agentin, erzählte es weiter, und so kam es zu jenem Anruf, der zu Santis Zürcher Debüt mit «La forza del destino» von Verdi am 3. September 1958 führte – auf Deutsch notabene. Willi Reich schrieb damals in diesen Spalten von der «entschiedenen Italianità» Santis und äusserte den Wunsch, dem Dirigenten erneut zu begegnen. Der Wunsch wurde erhört, Santi ist Zürich treu geblieben, bis heute.

Kurz nach seinem Debüt wurde er zum Ersten Kapellmeister ernannt, neben dem Musikalischen Oberleiter Otto Ackermann, der Santis Talent sofort erkannt hatte und ihn förderte. Ungezählt die Sternstunden, die wir mit ihm erleben durften, bis hin zu jenem denkwürdigen «Rigoletto» an seinem achtzigsten Geburtstag. Und unvergesslich die Art, in der er sich nach solchen Abenden mit minutenlanger Verbeugung für die Ovationen bedankte. Daneben hat er eine Weltkarriere gemacht, die ihn als Inkarnation der italienischen Oper an alle grossen Häuser geführt hat – bis nach Basel, wo er von 1986 bis 1994 dem Radio-Sinfonieorchester vorstand. Eben erst ist er aus Japan zurückgekehrt, wo er «Simon Boccanegra» in konzertanter Version dirigiert hat. Am Samstag erhält Santi in der Tonhalle den Kunstpreis der Stadt Zürich. Er hat ihn wie kein Zweiter verdient.