Wie anders klingen die USA?

Der älteren und neueren Moderne der USA galten die Tage für Neue Musik Zürich diesen Herbst. Als Programmgestalter hat sich Moritz Müllenbach von weitem Blick leiten lassen.

Peter Hagmann
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«Music on a Long Thin Wire» von Alvin Lucier im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich. (Bild: Giorgia Müller / NZZ)

«Music on a Long Thin Wire» von Alvin Lucier im Kleinen Saal der Tonhalle Zürich. (Bild: Giorgia Müller / NZZ)

Ob es das noch gibt: die Neue Musik – die mit dem grossen N? Es gab sie in den Aufbruchsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg, heftig proklamiert von den Ferienkursen in Darmstadt und wortgewaltig verteidigt von einer Gruppe um den Philosophen Theodor W. Adorno. Nie mehr sollte es so sein wie zuvor; das Schöne sei nach den Katastrophen der ersten Jahrhunderthälfte unmöglich geworden – ja, es sei zu vermeiden, da es korrumpiert sei. Ausgerechnet aus den USA kam damals die erste Störung, indem John Cage in Darmstadt behauptete, seine Musik klinge ganz ähnlich wie die von Pierre Boulez, nur sei sie nicht nach den Prinzipien der Serialität errechnet, sondern erwürfelt und somit zufällig. Von da an wurde, sehr vereinfacht gesagt, aus der Neuen Musik die neue Musik.

Erweiterung und Fokussierung

Den Tagen für Neue Musik Zürich ist das grosse N allerdings erhalten geblieben. Zufall sei das, erklärt René Karlen, der die klassische Musik in der Kulturabteilung der Stadt Zürich vertritt und für die Organisation der Tage für Neue Musik zuständig ist; der Grossbuchstabe sei nicht emphatisch aufgeladen, er habe sich einfach erhalten seit der Gründung des kleinen, aber sehr feinen Festivals durch Thomas Kessler und Gérard Zinsstag vor bald drei Jahrzehnten. Nach der diesjährigen Ausgabe der Tage für Neue Musik ist man geneigt, das nicht für bare Münze zu nehmen. Was hier geboten wurde, zeugte in mancher Hinsicht vom Bemühen, zu den Wurzeln der Musik zurückzukehren, neue Ausgangspunkte zu finden und, vor allem, die Kunst in frischer Weise mit jener Gesellschaft in Verbindung zu bringen, von der und mit der sie lebt.

Zum Ausdruck kam das etwa in «Calf» von Rick Burkhardt, einem Ensemblestück, das vom Collegium Novum Zürich unter der Leitung von Jonathan Stockhammer am Eröffnungsabend in der Roten Fabrik vorzüglich dargeboten wurde. Der stets etwas ironisch wirkende Komponist kennt keinen Spass, wenn es um das Klima geht. Mehrere Wirbelstürme habe er schon überlebt; er wisse, wie rasch wie viel zerstört werden könne, aber etwas dagegen zu unternehmen, wage kaum jemand. So lädt er seine Musik semantisch auf, er unterlegt sie mit einer Bedeutungsschicht, die sich in Texten aus dem Lautsprecher verwirklicht. Sehr verständlich wurden die Texte freilich nicht – so dass man sich am Ende fragen konnte, ob man nicht einer Spiegelfechterei zum Opfer gefallen sei. Einem Trugbild wie in «Migro» von Arthur Kampela, wo sich der Komponist als Improvisator an der Gitarre und anderen Instrumenten mit Schlagwörtern wie «Toleranz» und «Migration» herumschlug und sich dabei einer endlosen langweilenden One-Man-Show mit Ensemble hingab.

Weitaus deutlicher an die Wurzeln der Sache geht es bei Vertretern einer älteren Generation. Von Alvin Lucier wurde im Kleinen Tonhallesaal eine Installation gezeigt, die ihr Thema ebenso lapidar wie raffiniert ausbreitet. «Music on a Long Thin Wire» arbeitet mit einer langen, farbig beleuchteten Klaviersaite, die sich durch den nur spärlich erhellten, mit bequemen Sitzmöbeln versehenen Raum zieht. Fast halluzinatorisch verbreitet sich der von der Saite erzeugte und verstärkte Klang – wer wollte (und sich durch das Va et Vient nicht stören liess), konnte da durchaus in Versenkung geraten. Was die Rückkehr zum Einfachen, in diesem Fall zum Ton an sich, bedeuten kann, zeigte in anderer Weise «Form III» von James Tenney, wo ein Instrumentalensemble in relativer Freiheit um einen Zentralton herum einen an dessen Obertönen orientierten Akkord auf- und wieder abbaut. Das war ebenso wirksam wie die «Yankee Doodle Fantasy» von Harvey Partch, die von der Sopranistin Catriona Bühler und Mitgliedern der Musikfabrik Köln vorgeführt wurde: ein ebenso amüsantes wie rührendes Beispiel früher Mikrotonalität, das nur dank dem inzwischen rekonstruierten Chromelodeon wieder zum Leben erweckt werden kann.

Die Fokussierung, die bei Lucier, Tenney und Partch heraustritt – sie ist auch Reaktion. Reaktion etwa auf die weiten, bisweilen chaotischen Klangwelten von Charles Ives. Dessen vierte Sinfonie von 1916 bedient sich unterschiedlichster Anklänge, stellt Zitate neben- und übereinander und öffnet einen Raum, der von einem riesig besetzten Orchester mit vierhändigem Klavier und Orgel sowie einem gemischten Chor gebildet wird – ein enormes Stück, das den frühen, bekenntnishaften Sinfonien Mahlers gleicht. Die Aufführung durch das Tonhalle-Orchester Zürich und die Zürcher Sing-Akademie unter der Leitung von David Zinman und seinen beiden Assistenten war nicht nur eindrucksvoll, sondern auch hochstehend, nämlich keineswegs nur lärmig, vielmehr in der Dynamik sorgsam kontrolliert und ausbalanciert. Vorangegangen waren, mit dem Bariton Detlef Roth, Lieder von Ives, die John Adams für Orchester gesetzt hat, vor allem aber die «Musique pour les soupers du Roi Ubu» von Bernd Alois Zimmermann, wo ähnlich wie bei Ives mit Collagen gearbeitet wird. Witzig war das, zumal sich Moritz Leuenberger in den vom Komponisten verlangten Couplets als profunder Kenner der Phynanzpistolen Jarrys und als geistreicher Conférencier entpuppte.

Das Einbeziehen des Ungleichzeitigen und das Reagieren auf Geschehnisse der Umgebung, damit arbeiten auch jüngere Komponisten aus den USA – digitale Techniken machen hier vieles möglich. Sam Pluta zum Beispiel – das Ensemble Arc-en-ciel führte es unter der Leitung von Titus Engel im Theater Rigiblick vor – nimmt Klänge von Instrumentalisten auf, visualisiert sie und lässt sie von den Instrumenten erneut spielen, was zu reizvollen Verstärkungen führt. Katharina Rosenberger wiederum, die zwischen ihrer Heimatstadt und Kalifornien pendelnde Zürcher Komponistin, legt ihrem Stück «Parcours III» Elemente aus einer von ihr gestalteten interaktiven Klanginstallation zugrunde und projiziert sie auf ein Instrumentalensemble – was als Ansatz einleuchtet, im klanglichen Ergebnis aber arg zurückstösst.

Das Programm als Aussage

Ein vielfarbiges Panorama also. Entworfen hat es Moritz Müllenbach, der 33-jährige Cellist und Komponist aus Zürich. Er war der Kurator der Tage für Neue Musik 2013. Nachdem es künstlerisch lange Zeit durch den Gitarristen Mats Scheidegger zusammen mit dem Komponisten Nadir Vassena geleitet worden war, erhielt das Festival 2012 eine neue Leitungsstruktur. Jedes Jahr, so der Beschluss von damals, sollte ein neuer Kurator für das Programm verantwortlich sein. 2012 war der Pianist Christoph Keller mit der Programmgestaltung beauftragt; er legte den Akzent auf die Musik Lateinamerikas. Dieses Jahr nun sollte ein Vertreter der jüngeren Generation zum Zug kommen – und dass Moritz Müllenbach den Blick auf die USA richtete, ergab einen doppelt reizvollen Kontrast. Die sieben Konzerte des verlängerten Wochenendes liessen nicht nur erleben, dass die neuere Musik der USA weitaus mehr umfasst als John Cage und Morton Feldman, John Adams und Michael Daugherty – mehr als Zufall und Langsamkeit, Minimal und Neo-Romantik. Sie taten das auch in einem Programm, das ebenso reiche Anregung bot, wie es in seiner Vielfalt durch subtile Querbezüge zusammengehalten war. So sind gute Programme gebaut.