Frei über Klanglandschaften segeln

Der bedeutende belgische Komponist Henri Pousseur ist von der Musikhochschule Winterthur Zürich für eine Woche als Gastdozent eingeladen worden. Heute Freitag und morgen Samstag ist seine Musik im Konzert zu hören.

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Ikarus II. fliegt in die Freiheit, denn er besitzt jetzt ein Bienenwachs, das in Sonnennähe nicht schmelzen kann. Gegeben hat es ihm seine Tante Mnemosyne, die Göttin «Gedächtnis». Der Flug in die Zukunft ist nur möglich dank der Erinnerung; das Neue entsteht im Wettstreit mit der Tradition. Das Bild stammt vom belgischen Komponisten Henri Pousseur (geb. 1929), und es ist eines von vielen, die er mit feinem Humor zur Beschreibung seiner Tätigkeit bereithält. Wenn er selber wie am vergangenen Dienstag im Saal der Musikhochschule Zürich am Mischpult sitzt und live vier elektronische Etüden aus dem Jahre 1972 neu kombiniert und zum «Paraboles-mix» zusammenmischt, scheint er gleichsam selber zu fliegen, um ungesehenes Land zu erforschen. Manchmal überkommt es ihn dabei, und die Musik rauscht theatralisch auf. In einem andern Stück, Ausschnitten aus dem elektronischen Carillon «Paysages planétaires» (2000), komponierte er feinste Verschmelzungen von Musiken unterschiedlicher Herkunft. «Alaskamazonie» beispielsweise verbindet Umweltklänge und Gesänge aus der Heimat der Inuit mit den Klängen von Mensch und Biotop im Amazonas. Auch hier Mnemosyne und Ikarus: Bewahren von Stammesmusiken mit liebevoller Zuneigung und offene Suche nach Neuland.

Das konstruktive Einschmelzen von Tradition ins Eigene ist seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Grundthema von Henri Pousseurs Schaffen. Einst war er ja einer der strengsten Komponisten und Theoretiker der seriellen Schule. Aber im Gespräch erklärt er sofort: «Ich habe versucht, nicht in der Enge zu bleiben. Das Denk- und Erlebnismodell der Musik Anton Weberns, das für uns Ausgangspunkt war, deutete ich vielpolig: Alles bleibt schwebend, weil nichts dominiert. Ich wollte dann die Grenze sprengen und Elemente der Musiktradition, die ich noch immer sehr liebte, in meine eigene Kompositionsarbeit integrieren.» Fliegen wie Ikarus also. Ein Meta-System schaffen, in welchem die Systeme ganz verschiedener Musiken enthalten sind, aber ohne Zwang, ohne Gewalt, sondern offen und gleichwertig. So kann Pousseur heute gleichsam aus der Vogelperspektive komponieren, über Stil-Landschaften segeln, gleitende Übergänge, Kreuzungen schreiben. Mit Sympathie für die Tradition und das Neue, spielerisch. Aber nicht beliebig, sondern verbindlich, da im Hintergrund stets sein starkes und eigenwilliges musikalisches Denken das musikalische Geschehen prägt. Und das macht die grosse Qualität seiner Musik aus.

Der bald Dreiundsiebzigjährige ist ein offener und toleranter Mensch; er sieht die Musik als «einen Raum, in dem jedes Wesen frei, aber solidarisch und ebenbürtig ist». So möchte er auch die Gesellschaft sehen. Im Gespräch und im Unterricht lädt er einen unbefangen dazu ein, mitzudenken, mitzuerleben. Während fünf dichter Tage ist er zurzeit an der Musikhochschule Winterthur Zürich tätig, arbeitet mit Studentinnen und Studenten, gibt Workshops, Konzerte. Parallel dazu findet ein Jean-Philippe-Rameau-Seminar des Studios für Alte Musik statt, und das ist kein Zufall, denn schon in Rameaus Harmonielehre hat Pousseur Aspekte seiner eigenen «Netztheorie» verwirklicht gefunden, die er 1968 in einer Schrift mit dem bezeichnenden Titel «L'Apothéose de Rameau» festhielt. Morgen Samstagabend wird das Orchester Musikkollegium Winterthur unter der Leitung von Pierre- Alain Monot im Stadthaus Winterthur Pousseurs musikalische Auseinandersetzung mit Rameau aufführen: «La seconde apothéose de Rameau» (1981) für Orchester gleitet schwebend über zweihundertfünfzig Jahre Musikgeschichte. Und heute Freitag gibt das Hochschulensemble für Neue Musik, Arc-en-ciel, unter der Leitung von Véronique Lacroix im Konzertsaal der Musikhochschule Winterthur an der Tössertobelstrasse 1 einen Abend, an welchem ausschliesslich kammermusikalische und vokale Arbeiten Pousseurs erklingen werden. Die Spanne reicht vom frühen «Quintette à la mémoire d'Anton Webern» (1955) bis zu Werken der späten achtziger und frühen neunziger Jahre.

Alfred Zimmerlin

Winterthur, Konzertsaal der Musikhochschule, Freitag, 5. April, 19 Uhr 30, Eintritt frei. - Winterthur, Stadthaus, Samstag, 6. April, 19 Uhr 45, Werke von Pousseur, Debussy und Duparc. Tel. 052 267 67 00.