Überfülle und Kargheit

Als klein, aber fein verstünden sich die Tage für Neue Musik, welche die Stadt Zürich jedes Jahr im Spätherbst durchführt - so sehen es Mats Scheidegger und Nadir Vassena, die zurzeit die künstlerische Leitung des Festivals innehaben. Klein ist vielleicht

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Als klein, aber fein verstünden sich die Tage für Neue Musik, welche die Stadt Zürich jedes Jahr im Spätherbst durchführt - so sehen es Mats Scheidegger und Nadir Vassena, die zurzeit die künstlerische Leitung des Festivals innehaben. Klein ist vielleicht der Besucherandrang; während andernorts zwischen Strasbourg und Wien bei Neuer Musik inzwischen full house zu herrschen pflegt, bleibt man in Zürich weitgehend unter sich - da kann organisatorisch, von der Werbung über die Animation bis hin zur Gastronomie, noch das eine oder andere an die Hand genommen werden. Das Interesse für diesen Gegenstand ist bekanntlich nicht einfach da, es muss geweckt und erhalten werden. Und vor allem könnten noch einige Synergien genutzt werden; dass sich aus Zürich weder das Collegium Novum noch das Tonhalle- Orchester am Festival zu Wort meldeten, ist doch sehr zu bedauern.

Höchstes Niveau

Mag also die Wirkung klein bleiben, so braucht sich das Angebot der Tage für Neue Musik Zürich durchaus nicht hinter diesem Adjektiv zu verstecken; was die sechs Konzerte, die sich auf vier Tage verteilten, an Anregung vermittelten, darf sich sehen lassen - zumal auch auf der Ebene der Interpretation zum Teil höchstes Niveau gezeigt wurde. Nach dem Kanadier Claude Vivier im letzten Herbst stand dieses Jahr mit Francisco Guerrero (1951-1997) wiederum ein Komponist im Zentrum der Programme, der auch unter Spezialisten kaum bekannt ist. Biografisch wie ästhetisch schwer fassbar, gehört der Spanier zu jenen Künstlern, deren Musik weniger den Kategorien von Struktur als jenen von Masse und (organisiertem) Zufall gehorchen. Sein Denken ist mathematisch begründet, und es geht ihm nicht so sehr um den wie auch immer gestalteten musikalischen Verlauf als den Umgang mit einer Überfülle an Tönen und Energien.

«Zayin», so nennt sich ein sechsteiliger Zyklus, der 1995 vom Arditti-Quartett erstmals vorgestellt worden ist. Er soll, wie Theo Hirsbrunner in einem einführenden Vortrag darlegte, durchaus Abschnitte aus dem Leben des Komponisten spiegeln - im Hören gewinnt man den Eindruck einer voll und ganz abstrakten Musik, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie mit Hilfe von Computerprogrammen aus kleinsten Zellen heraus entwickelt worden ist. So souverän wie immer stellte das Trio Recherche mit Melise Mellinger (Violine), Barbara Maurer (Viola) und Lukas Fels (Violoncello) den ersten und den fünften Abschnitt aus «Zayin» vor. Töne werden umspielt, ballen sich zu wilden Haufen und verbinden sich mit geräuschhaften Momenten - kaum zu bremsen scheint hier die Kraft, die sich hinter den Noten versteckt.

Noch deutlicher fassbar wurde die Musik Guerreros in einem interessanten Dreischritt, den das eigens nach Zürich gebetene Orquesta sinfonica de Valencia mit seinem Chefdirigenten Yaron Traub vollzog. Er hob mit «Zayin VI» an, einer Art modernem «Hummelflug», mit dem der Geiger David Alberman brillierte. Er führte weiter zu «Ariadna» für Streicher, in dem sich die herrlichsten Klangflächen in Vierteltontechnik mit heftigsten Aufstiegsbewegungen abwechseln. Und er endete bei «Coma Berenices», einem gross besetzten Orchesterwerk, das von den Gästen aus Spanien allerdings mit einem fatalen Hang zu lärmigem Auftrumpfen gespielt und damit seiner Wirkung beraubt wurde. Unter dieser Haltung litten auch die Uraufführung der unsäglich epigonalen «Retratos históricos» des jungen Spaniers Enrique Hernandis Martínez und die Wiedergabe der 1960 entstandenen Sinfonie Nr. 3 des spanisch-schweizerischen Komponisten Roberto Gerhard.

In ihrer gewiss bis ins Letzte durchorganisierten, im Ergebnis aber oft lauten Direktheit hat Guerreros Musik etwas Bedrängendes - weshalb es ausgesprochen sinnvoll schien, sie mit Werken zu umgeben, in denen mit feineren Strichen gearbeitet wird. Zum Beispiel mit «Proliférations» von Claude Vivier, einem stillen Stück, in dem sich ein Klang aus dem anderen entwickelt; dem Nachhall eines Akkords auf dem Klavier entsteigt einer dieser zarten, runden Töne der Ondes Martenot, der dann unmerklich übergeht in den Laut des Vibraphons - unter der Leitung von Emilio Pomárico hat es das der Zürcher Musikhochschule entstammende Ensemble Arc-en-Ciel sorgsam ausgeformt. Ähnlich feinsinnig und auf den Klang bezogen geht Jérôme Combier vor, ein junger Franzose, der einen eigenen kleinen Schwerpunkt erhielt, seine Handschrift aber noch nicht wirklich gefunden zu haben scheint.

Meisterwerke und Schätze

Und dann, immer wieder dazwischengestreut: Meisterwerke. «Hermes» von Salvatore Sciarrino etwa, ein einstimmiges Drama für Flöte solo, das bei dem grossartigen Auftritt des Pariser Ensembles Cairn unter der Leitung von Guillaume Bourgogne erklang. Oder das «Lied ohne Worte» von Beat Furrer, ein phantasievoll tastendes Suchen im Tonraum, mit dem der Geiger David Alberman und der Pianist Rolf Hind ihr hinreissendes Sonntagmorgen-Récital eröffneten. Oder eben das frühe, noch ganz tonale und doch so eigenwillige Streichtrio von Bernd Alois Zimmermann, mit dem das Trio Recherche überraschte. Bei den Tagen für Neue Musik in Zürich gibt es immer wieder Schätze zu heben - jeden Herbst, also auch 2006, wenn das kleine, aber feine Festival seinen zwanzigsten Geburtstag begeht. Und sich aus diesem Anlass vielleicht einen kleinen Innovationsschub leistet.

Peter Hagmann