Verfeinerungen auf höchstem Niveau

ii.
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Etwas ist da - eine Bewegung, ein sich verändernder Klang, ein Zusammentreffen. Und plötzlich, unerwartet, wird abgebrochen, die Beteiligten gehen weg. Eine Leere entsteht. Wie gehe ich damit um? Mit dem Warten auf etwas? Zu solchen Fragen mag die Choreografie «How many parts of it - the one - and» von Gabriel Hernández und seiner Compagnie «tHEL danse Paris» zu Musik von Bernd Asmus und Walter Feldmann anregen, die am Sonntag den ausgezeichneten Jahrgang 2003 der Tage für Neue Musik Zürich beendeten. Jedes auratische Moment wurde gebrochen, jeder Fluss gestört. Das Publikum musste sich seinen Parcours durch den Abend selber wählen, denn wie will man beispielsweise Walter Feldmanns dreiteilige Komposition «how many parts of it - the one, - and how many the other» für Viola, Flöte und Live-Elektronik als Ganzes wahrnehmen, wenn gleichzeitig vier Tänzer ihre Aktivitäten ständig abbrechen? Wie will man die raffiniert pulsierende Rhythmik darin bemerken, wenn man in das Zeitgitter der im immer gleichen forschen Rhythmus abmarschierenden Truppe gezwungen wird? Ein Abend voller Widerstände also.

Diese Risikobereitschaft zeichnet die Arbeit von Walter Feldmann aus, als Komponist ebenso wie als künstlerischer Leiter der Tage für Neue Musik (TfNM). Nach zehn Jahren nun verabschiedete er sich mit diesem speziellen Abend von den TfNM; der Komponist Nadir Vassena wird sie in den nächsten Jahren zusammen mit Mats Scheidegger betreuen. Man konnte sich an den Programmen Feldmanns reiben, aber die Fragen, die er aufwarf, waren immer der Reibung wert. Und man konnte Entdeckungen machen bei ihm. Zudem ist es ihm immer wieder gelungen, exemplarische Werke in Zürich aufzuführen, die zeigen, was Komponieren heute ist. Bleibende Eindrücke nehmen wir mit: Brian Ferneyhoughs «Carceri»-Zyklus beispielsweise, Gérard Griseys «Quatre chants pour franchir le seuil», Emmanuel Nunes' «Musik der Frühe». Und so ein Werk interpretierte das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung des ausgezeichneten Dirigenten Pierre-André Valade auch am Samstag in der Tonhalle: Gérard Griseys grossen Zyklus «Les espaces acoustiques» (1974-85). Ein unglaubliches Erlebnis, kompositorisch und interpretatorisch: Michel Rouilly verstand es auf sensationelle Weise, dem Bratschensolo «Prologue» zu Beginn Tiefe, Atem, eine feine Gestalt zu geben. Da spürte man, wie gut es Neuer Musik tut, wenn sie mit dem Bewusstsein für einen grossen Traditionshintergrund interpretiert wird. Und diesen Hintergrund gab das Tonhalle-Orchester Griseys «Espaces» in den kleiner besetzten Werkteilen ebenso wie in den «Transitoires» für grosses Orchester oder dem «Epilogue» für Orchester und vier Solohörner - und wie diese Hörner spielten!

Tags zuvor gab es einen anderen grossen Zyklus, der wie Griseys «Espaces» zu den zentralen Werken des 20. Jahrhunderts gehört: Pierre Boulez trat mit «Pli selon Pli» (1957-62, 1984, 1989) auf und dirigierte die vereinigten Ensembles Contrechamps Genf, Collegium Novum Zürich und Phoenix Basel; den Solopart gestaltete eindrücklich die Sopranistin Vladine Anderson. Die Frühfassung des «Pli» wurde übrigens schon 1961 in der Ära Rosbaud in Zürich unter Boulez' Leitung aufgeführt. «Don», das erste Stück, verzauberte sofort. Eine eigene, kristallin klare Klangwelt und Ästhetik nahm einen gefangen. Seltsam, was danach passierte. Eine wachsende Kälte, die einem aus den wuchernden Strukturen der drei «Improvisations sur Mallarmé» sowie des Schlusssatzes «Tombeau» (und aus dem routinierten Dirigat von Boulez) entgegentrat, legte sich über die Klänge und entliess einen mit zwiespältigen Gefühlen. - Neuentdeckungen gab es an den TfNM auch zu machen: Das Ensemble Arc-en-Ciel der Hochschule Musik und Theater Zürich unter der Leitung von Jürg Wyttenbach interpretierte auf höchstem Niveau Werke von Boulez, Nono und Grisey und spielte die Uraufführung von Thomas Müllers «Auslöschung/Schwelle» für kleines Ensemble und Elektronik: ein eigenbrötlerisches Werk, spannend, risikoreich, beinahe tänzerisch, und es löste ein Nachdenken über das Phänomen des Pulsierens und des Schwingens aus. Einen grossen Auftritt hatte das Mondrian Ensemble, das zu den Spitzenensembles Neuer Musik gehört. Es ermöglichte unter anderem die Begegnung mit dem vom ersten bis zum letzten Ton attraktiven Klaviertrio «verinnerung» von Michel Roth; oder mit der Begabung des Komponisten Martin Jaggi. Mats Scheidegger stellte mit «Augustin y la eternidad de Los Duendes» ein fabelhaftes Gitarrensolostück von Alvaro Carlevaro vor. Und der Sonntag brachte den grossen Zyklus «Vier Suiten für Viktor» von Rico Gubler: Eine Musik von grosser Differenziertheit; die schier überlaufende Phantasie des Komponisten zieht einen in Bann - und ufert doch nicht aus, denn sie wird in kleinen Formen gebunden.

Alfred Zimmerlin

Zürich, Tonhalle, EWZ-Unterwerk Selnau, 6.-9. November.