Sinfonische Vorschläge

Ein leichtes Fliessen, Bewegung wird exponiert. In welche Richtung wird sie die Zuhörenden führen? Wege sind zahlreiche möglich, viel Raum dafür steht offen. Und Zeit. Eine langsame Metamorphose setzt ein, dennoch überfällt einen die Feststellung überraschend: In dieser Musik steckt

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Ein leichtes Fliessen, Bewegung wird exponiert. In welche Richtung wird sie die Zuhörenden führen? Wege sind zahlreiche möglich, viel Raum dafür steht offen. Und Zeit. Eine langsame Metamorphose setzt ein, dennoch überfällt einen die Feststellung überraschend: In dieser Musik steckt ein sinfonischer Gestus, das Fliessen könnte die Einleitung zu einer Sinfonie gewesen sein. Aber es ist ein sinfonischer Gestus in der Möglichkeitsform, ein Vorschlag, der das Hören nicht einengt, sondern die Wahrnehmung weiter ins Offene führt. Wolfgang Rihms gut halbstündiges Werk für grosses Orchester, «Vers une Symphonie fleuve IV» (1997/98/2000), bietet lauter solche Vorschläge. Der Komponist spielt mit den grossen Gesten der Musikgeschichte, von Beethoven über Schumann, Bruckner, Mahler bis Berg und Hartmann. Das Werk scheint eine einzige grosse Veränderung von einer sinfonischen Gebärde zur nächsten und übernächsten zu sein. Meint man, einen solchen Komplex inhaltlich- musikalischen Verhaltens gleichsam «gepackt» beziehungsweise benannt zu haben, ist man bereits an einem andern Ort. Wie die Gestaltveränderungen vor sich gehen, ist enorm spannend und raffiniert. Und wie Rihm beständig Fragezeichen setzt, das Hören und Erleben ebenso in Frage stellt wie sich selber und sich riskant an die äussersten Grenzen jeder, auch geschmacklichen Art hinauswagt, ist eindrücklich.

Hochschulorchester im Höhenflug

Ebenso eindrücklich ist, wie engagiert, präzise und motiviert das Orchester der Hochschule Musik und Theater Zürich und der Musikhochschule Genf unter der Leitung von Stefan Asbury in der Tonhalle Zürich spielte. Es wurde für die Orchesterakademie der beiden Hochschulen zusammengestellt, welche Studierende auf eine mögliche Berufslaufbahn in einem professionellen Orchester vorbereitet. Während einer Woche wurden in Genf unter Asburys Leitung Rihms «Vers une Symphonie fleuve IV» und Igor Strawinskys «Le Sacre du Printemps» konzertreif einstudiert. Und wie! Dass ein Hochschulorchester in der Schweiz so schwierige und heikle Literatur bewältigt und unter der Leitung eines hervorragenden Dirigenten auch interpretiert, eine klare Sicht davon bietet, wäre noch vor fünfzehn Jahren kaum so denkbar gewesen.

Rihms fruchtbare Präsenz

Mit diesem Konzert ist auch eine Woche Rihm- Résidence an der Musikhochschule Zürich zu Ende gegangen (vgl. NZZ vom 11. 2. 03). Erstaunlich viele junge Menschen - Studierende der Hochschule, aber nicht nur - haben die Gelegenheit genutzt, in der Tonhalle Orchestermusik der Gegenwart zu hören. Rihms Präsenz hat in Zürich viel ausgelöst. Die Ehrlichkeit, mit der er sich zu seiner eigenen und zur Musik anderer äusserte, sein integrierendes Verhalten hat die Studierenden und Lehrer gepackt und fasziniert, mitunter gar aus der Reserve geholt. Die Rihm-Woche zeigte, welch wichtige Rolle eine Hochschule dank klug durchdachten Vernetzungen im Musikleben einer Stadt übernehmen kann - auch, was den Publikumsnachwuchs betrifft. Denn die jungen Menschen, welche in der Tonhalle waren, freuen sich bereits auf Rihms Auftritt bei zwei Konzerten des Collegium Novum Zürich, am 15. und 16. März.

Alfred Zimmerlin

Zürich, Tonhalle, 15. Februar