Verschlungene Hörwege, expressive Klangräume

In ihrer Jubiläumsausgabe boten die Zürcher Tage für neue Musik, die vor einem Vierteljahrhundert gegründet worden sind, wieder die Möglichkeit, viel zu entdecken. Nebst dem internationalen wurde auch das Schweizer Schaffen gewürdigt, zum Beispiel mit einer Kelterborn-Uraufführung.

Alfred Zimmerlin
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Fünfundzwanzig Jahre alt sind sie heuer geworden, die Tage für neue Musik Zürich (TfnM). Mit viel Pioniergeist wurden sie 1986 von Gérard Zinsstag und Thomas Kessler gegründet in einem Musikleben, in welchem eher wenig zeitgenössische Musik zu hören war und noch seltener wichtige internationale Komponisten nach Zürich kamen. Das Festival war originell und brachte Musik, welche in Zürich live noch nie erklungen war. Das Umfeld wandelte sich indes, und seit 1994 ist Stadt Zürich Kultur Veranstalterin der Tage für neue Musik. Der Komponist Walter Feldmann übernahm die künstlerische Leitung und prägte das Festival mit klar reflektierten Programmen. Brian Ferneyhough, Klaus K. Hübler, Emmanuel Nunes, Pierre Boulez kamen nach Zürich; exemplarische Werke der jüngsten Musikgeschichte, etwa von Gérard Grisey, waren zu erleben.

Ab 1999 leitete Feldmann das Festival gemeinsam mit Mats Scheidegger, und 2004 folgte der Komponist Nadir Vassena als Partner Scheideggers nach. Die beiden waren es auch, welche die Jubiläumsausgabe der «Tage» programmierten. Ihr letztes Festival allerdings, denn ab 2012 wird ein neues Modell getestet: Versuchsweise soll in den kommenden Jahren ein jährlich wechselnder Kurator die TfnM künstlerisch betreuen. Ob das System tragfähig und zukunftstauglich ist, soll nach zwei Ausgaben entschieden werden.

Schweizer Ensembles

Am Jubiläumsfestival vom 10. bis 13. November hatten nun Schweizer Ensembles wie das Collegium Novum Zürich (CNZ) oder das Galatea-Quartett bemerkenswerte Auftritte. Das Ensemble Laboratorium ist zwar interkontinental besetzt, wurde aber in der Schweiz im Rahmen der Lucerne Festival Academy gegründet. Mutig war der Auftritt des von Jean-Philippe Wurtz geleiteten Ensembles Linea, welches eines der Hauptwerke von Brian Ferneyhough aus den letzten Jahren vorstellte: «Chronos-Aion» (2007/08) hat delirierende Momente und steckt dennoch voller Störungen, welche die Wahrnehmung aufsprengen. Es gibt Passagen, wo sich die klangliche Oberfläche wegen ihrer Kleingliedrigkeit in etwas Nebulöses aufzulösen scheint, dann wieder Zonen von grosser Klarheit und Prägnanz. Eine Hör-Herausforderung, der man sich gerne stellt.

Linea stellte auch den hierzulande unbekannten italienischen Komponisten Francesco Filidei vor, der mit «Finito ogni gesto» ein anziehendes Werk geschaffen hat; Filideis «Partita» (mit Laboratorium) überzeugte zwar als Ganzes weniger, zeigte indes eine eigenwillige Klanglichkeit. Erste Begegnungen gab es mit dem Italiener Carlo Ciceri und dem – eigenwilligeren – Dänen Morten Olsen. Cenk Ergün liess in «Nasreddin» ein Saxofon, eine Trompete und eine Posaune meist leise und geräuschhaft hinter einem von Laboratorium gespielten «Soundtrack» improvisieren; vielschichtiger war die Begegnung von improvisierter und komponierter Musik in Richard Barretts «Codex I».

Dass an den Tagen für neue Musik auch Wichtiges aus den letzten sechzig Jahren der Musikgeschichte erschlossen wird, hat Tradition. 2011 erklangen zwei Werke des spanisch-französischen Komponisten Maurice Ohana (1913–1992). Das späte «Kypris» (gespielt vom CNZ) hinterliess einen starken Eindruck, das Cembalokonzert «Chiffres» (1967/68, mit dem Cembalisten Florian Hoelscher und Linea) war eine echte Entdeckung: Welche Klangphantasie und strukturelle Vielfalt, welche Originalität steckt in dieser Musik des Messiaen-Zeitgenossen. Musikalisch eine imposante Begegnung von archaischer Wucht ereignete sich in der Licht- und Klangkomposition «Persépolis» (1971) von Iannis Xenakis; die optische Auslegung von Fabrizio Rosso und Co. blieb allerdings dürftig.

Der Schweizer Komponist Rudolf Kelterborn ist vor zwei Monaten achtzig Jahre alt geworden; im Eröffnungskonzert der TfnM erklang die exzellent interpretierte Uraufführung eines seiner jüngsten Werke durch Eva Nievergelt (Sopran), Robert Koller (Bariton) und das CNZ unter der Leitung von David Philip Hefti. «Das Ohr des Innern», eine dreisätzige Auseinandersetzung mit dreizehn Haiku-Gedichten japanischer Dichter, zeigte eindrücklich, welcher Aufbruch in neue Regionen sich in Kelterborns Schaffen in den letzten fünfzehn Jahren ereignet hat. Die Kurzgedichte werden gleichsam multiperspektivisch in einen grossen, expressiven Raum projiziert, der «Welt» oder «Leben» sagt. Musik von grossem Reichtum, die gerade durch ihre Neuheit und Kompromisslosigkeit berührt.

Schweizer Komponisten

Ausschliesslich Schweizer wurden in den letzten beiden Konzerten des Festivals aufgeführt. So stellte das Galatea-Quartett in einer bewegenden Interpretation Hans Ulrich Lehmanns jüngstes Streichquartett «Nachklänge» vor: ein Werk, das sich unaufdringlich, doch verbindlich auf eine intensive Suche nach einem verschlungenen Hör-Weg in eine ganz eigene Ausdruckswelt begibt. Im selben Konzert erklangen Kelterborns nicht minder starkes Streichquartett Nr. 6 (2001) und Beat Furrers Streichquartett Nr. 2 (1988). Furrer, der dieser Tage auch eindringlich an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) präsent war, leitete selber im Schlusskonzert eines seiner Hauptwerke, das somit endlich auch in Zürich vorgestellt werden konnte.

Mit dem Ensemble «Arc-en-ciel» und dem Vokalensemble der ZHdK erarbeiteten er und Peter Siegwart (Einstudierung) das Hörtheater «Fama» (2005) für acht Stimmen, Ensemble, Schauspielerin (Isabelle Menke) und Klanggebäude. Letzteres allerdings konnte in der Zürcher Tonhalle nicht aufgebaut werden, so dass eine konzertante Aufführung mit einer subtilen Raumklang-Choreografie gegeben wurde. «Fama» hat seit seiner Uraufführung bereits eine Interpretationsgeschichte; staunenswert, welch differenzierte Aufführung Furrer mit den Studierenden realisieren konnte. Das Werk erhielt einen atemraubenden Sog, und die Geschichte des «Fräulein Else» (Schnitzler), die unter anderem erzählt wird, erreichte die Zuhörenden mit einer emotionellen Unmittelbarkeit sondergleichen – und mit einer Klangschönheit im Leisen, die ihresgleichen sucht.